Kabbala und der Sinn des Lebens - Michael Laitmans persönlicher Blog

Die einstige Spaltung ist heute gefährlicher denn je

Wenn Jugendliche erwachsen werden, kann man das sehr gut erkennen: Die Veränderung in ihrem Verhalten – wenn sie, anstatt anderen die Schuld für ihr Unglück zu geben, sich selbst nüchtern untersuchen, herausfinden, was sie falsch gemacht haben, und daran arbeiten, es zu verbessern, damit es nicht wieder passiert. Auch unsere Nation hat eine Geisteshaltung, und dieses Verhalten bestimmt unser Schicksal. Wenn wir über die nötige Reife verfügen und uns nüchtern prüfen, werden wir Erfolg haben. Sobald wir uns jedoch in die Opferrolle hineinbegeben, werden wir zu Opfern.

Seit den Anfängen unserer Nation – als wir aus Ägypten auszogen und unsere Nation mit dem Versprechen begründeten, uns „als ein Mann mit einem Herzen“ zu vereinen und „ein Licht für die Völker“ zu sein – sind wir in zwei Gruppen aufgespalten. Die eine Gruppe folgte der spirituellen Idee, sich an die Regel zu halten: „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst.“ Diese Menschen gingen durch Höhen und Tiefen in ihrem Grad der Einheit und fielen oft in tiefen Hass, doch sie kamen immer durch und vereinten sich über ihre Spaltungen hinweg. Sie erkannten in ihren Spaltungen die Herausforderung, ihre Einheit noch mehr zu festigen. Die andere Gruppe, die sich damals bildete, hielt sich an verschiedene Bräuche und Traditionen. Sie begnügten sich mit der Einhaltung von Ritualen und suchten nicht die Einheit der Herzen, weil sie dies nicht als den Kern des Judentums ansahen.

Die Kluft zwischen den beiden Gruppen wurde nie überwunden, und im Laufe der Jahre haben sich Hass und Entfremdung zwischen ihnen entwickelt.

Sie hätten vielleicht friedlich nebeneinander leben können, wenn da nicht die Berufung des jüdischen Volkes gewesen wäre. Wir wurden nämlich nicht geschaffen, um Rituale zu befolgen und Sitten und Gebräuche einzuhalten; wir wurden geschaffen, um ein Licht für die Völker zu sein, um ein Beispiel der Einheit zu geben „als ein Mensch mit einem Herzen.“ Lassen wir das Element der Einheit aus unserem Jüdisch sein weg, verlieren wir die Bedeutung unseres Daseins als Volk. Das ist der Grund, warum in unserer Tora geschrieben steht: „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst“ (Lev. 19:18), und warum unsere Weisen ausdrücklich schrieben: „Was dir verhasst ist, sollst du deinem Nächsten nicht antun. Das ist die ganze Tora, und der Rest sind Kommentare“ (Schabbat 31a). Natürlich bricht manchmal Hass aus, aber er dient gerade dazu, zu zeigen, wie wir uns über ihn erheben können, indem wir unsere Einheit vergrößern. Deshalb schrieb König Salomo: „Hass schürt Zwietracht und Liebe bedeckt alle Verbrechen“ (Spr 12,10).

Auch das Buch Zohar erklärt, warum wir Streitigkeiten haben und warum es wichtig ist, dass wir uns über sie erheben und der Welt ein Beispiel geben. Im Zohar, Abschnitt Aharei Mot steht geschrieben: „‚Seht, wie gut und wie angenehm es ist, wenn Brüder auch zusammensitzen.‘ Dies sind die Freunde, wie sie zusammen sitzen und nicht voneinander getrennt sind. Zunächst scheinen sie wie Menschen im Krieg zu sein, die sich gegenseitig umbringen wollen … dann jedoch kehren sie zurück, um in brüderlicher Liebe zu sein. … Und ihr, die Freunde, die ihr hier seid, so wie ihr vorher in Zuneigung und Liebe beieinander saßt, so werdet auch ihr euch von nun an nicht mehr voneinander trennen … und durch euren Verdienst wird es Frieden in der Welt geben.“

Viele Jahrhunderte lang kämpften unsere Vorväter darum, ihre Einheit trotz der Spaltung zu bewahren. Waren sie erfolgreich, blühten sie auf. Versagten sie, wurden sie von fremden Herrschern wie dem babylonischen König Nebukadnezar im Ersten Tempel und Titus, dem Oberbefehlshaber der römischen Legion, im Zweiten Tempel bestraft und verbannt. Unsere Vorväter gaben jedoch weder Nebukadnezar noch Titus die Schuld an ihrem Unglück, obwohl beide ihre Gräueltaten an unserem Volk verübten. Stattdessen beschuldigten unsere Vorväter sich selbst, ihr eigenes Volk, für ihren Mangel an Einheit, dafür, dass sie sich gegenseitig verleumdeten, Blut vergossen und sich gegenseitig hassten. Nach der Zerstörung des Ersten Tempels vereinigten wir uns in Babylon aufgrund der drohenden Zerstörung, die vom Bösewicht Haman ausging. Bald darauf wurde uns das Land Israel zurückgegeben. Nach der Zerstörung des Zweiten Tempels zerstreuten wir uns, tauchten in die Nationen um uns herum ein und beklagten unser Unglück. Infolgedessen blieben wir zwei Jahrtausende lang verfolgt, ausgenutzt, misshandelt, verbannt und ermordet.

Im späten 19. Jahrhundert begannen wir, die Dinge selbst in die Hand zu nehmen und gründeten erneut die Bewegung zur Schaffung eines jüdischen souveränen Staates. Wir erkannten immer noch nicht die Bedeutung der Einheit über alle Trennungen hinweg für unsere Nation, aber wir gaben die Opferrolle auf und begannen, an einer Lösung zu arbeiten. Nach dem Holocaust beschlossen die Nationen, uns eine Chance zu geben und gewährten uns Souveränität im Land unserer Väter.

Zwar haben wir hier die Opfer-Rolle abgelegt, entwickelten dafür aber eine neue, noch unheimlichere Rolle: den Hochmut. Wir halten uns für mächtig, für rechtschaffen, und schlauer als alle anderen. Außerdem gibt es immer noch den Teil der Nation, der denkt, dass er, weil er Rituale und Bräuche einhält, Anspruch auf Schutz von oben hat. Das Einzige, woran niemand denkt, ist Einheit. Anstatt ein Beispiel für Einheit zu geben, sind wir ein Beispiel für Eitelkeit, Anmaßung und gegenseitige Abscheu geworden.

Und wie schon zuvor haben wir damit ein mächtiges Imperium gegen uns aufgebracht. Die neue Regierung in den USA ist anti-israelisch und will den jüdischen Staat abschaffen, ihn von der Landkarte streichen. Wir sollten uns diesbezüglich keinen Zweifeln hingeben. Wenn wir ihr Vorhaben vereiteln wollen, ist unsere einzige Waffe unsere Einheit. Andernfalls werden sie Erfolg haben, und uns wird nichts anderes als unsere Opferrolle übrig bleiben. Aber genau wie früher wird unser Unglück nicht wegen irgendeines äußeren Herrschers über uns kommen, sondern wegen unserer eigenen Spaltung und unseres gegenseitigen Hasses, den wir anstelle von gegenseitiger Verantwortung und Nächstenliebe kultiviert haben.

Wir haben keine Zeit zu verlieren. Wenn wir uns nicht über unsere Selbstherrlichkeit erheben, damit aufhören, anderen die Schuld an unserer Misere zu geben, und anfangen, die Dinge in die Hand zu nehmen und uns sehr, sehr bald zu vereinigen, werden wir nicht in der Lage sein, unser Land zu retten.


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