Kabbala und der Sinn des Lebens - Michael Laitmans persönlicher Blog

Der Tag nach dem Coronavirus – Kapitel 2. – Interdependenz

 Interdependenz

Das Virus lässt uns bitter unsere Kleinheit und Schwäche angesichts der übermächtigen und einschüchternden Natur spüren. Wir erzittern wie ein Schwimmer vor der sich schnell nähernden Haiflosse.

Darüber hinaus zeigt uns das Coronavirus unsere enge gegenseitige, wenn auch vielfach negativ wahrgenommene Abhängigkeit. Wir können uns schon beim geringsten Kontakt gegenseitig anstecken. Angefangen von einem Händedruck bis hin zur gemeinsamen Nutzung desselben Raums. Es braucht nur einen Moment der Verantwortungslosigkeit, ob ohne Absicht oder durch Missachtung der Richtlinien des Gesundheitsministeriums, um jemand anzustecken.

Wir sind es mittlerweile gewöhnt, problemlos mit Menschen auf der ganzen Welt zu kommunizieren, online einzukaufen, häufig zu fliegen und uns ständig darüber zu informieren, wo was geschieht. Das ist eine Form der Verbindung. Wir haben es bisher jedoch versäumt, uns das Ausmaß und die Konsequenz einer solchen Verbindung vorzustellen.

Das Coronavirus macht deutlich, dass das Problem eines Menschen an einem weit entfernten Ort, sehr bald auch zu unserem Problem werden kann. In den letzten Jahren sprachen Politiker, Wirtschaftswissenschaftler und Staatsoberhäupter zunehmend darüber, dass wir als Menschheit im selben Boot sitzen. Und mit dem Ausbruch der Pandemie wurde das Konzept der globalen, gegenseitigen Abhängigkeit plötzlich und über Nacht zur Wirklichkeit. Die Welt ist durch Wirtschaft, Handel und Internet schon lange zu einem Netzwerk geworden, über dessen Auswirkung wir uns bisher kaum bewusst waren.

„Die gegenseitige Abhängigkeit stellt jeden Menschen auf der ganzen Welt in einer noch nie dagewesenen Weise bloß“, schrieb der ehemalige NATO-Generalsekretär Javier Solana vor fast zehn Jahren in seinem Artikel „The New Grammar of Power“ zusammen mit Daniel Innerarity, Professor für soziale und  politische Philosophie an der Universität des Baskenlandes. In dem Artikel gehen Solana und Innerarity näher auf das enorme Ausmaß unserer gegenseitigen Abhängigkeit ein und schlussfolgern, wie notwendig eine grundlegende Änderung unserer Einstellung zueinander ist, wenn man anerkennt, wie sehr wir voneinander abhängig sind:

„Denken Sie an den Klimawandel; die Risiken der Kernenergie und der Verbreitung von Kernwaffen; terroristische Bedrohungen […]; die Kollateralschäden politischer Instabilität; die wirtschaftlichen Auswirkungen von Finanzkrisen; Epidemien (deren Risiken mit größerer Mobilität und freiem Handel zunehmen); und plötzliche, von den Medien angeheizte Paniken. […] Nichts ist völlig isoliert. […] Die Probleme anderer Menschen sind jetzt unsere Probleme, und wir können sie nicht mehr mit Gleichgültigkeit betrachten oder darauf hoffen, einen persönlichen Nutzen aus ihnen zu ziehen. […] Wir müssen eine neue Grammatik der Macht lernen, in einer Welt, die mehr aus dem Gemeinwohl – oder dem gemeinsamen Schlechten – besteht als aus Eigeninteresse oder nationalem Interesse“.

Die Gesetze des Netzwerks wurden nun deutlich spürbar. Die staatlichen Gesundheitsämter und Experten wurden zu Gesetzgebern. Neue Regeln wurden aufgestellt: Kontaktverbot, Mindestabstand, Maskenpflicht, Handschuhe und Selbst-Quarantäne, wenn man engen Kontakt zu einem bestätigten COVID-19-Fall hatte. Schließlich folgte eine allmähliche, allgemeine Abriegelung.

Mit dem Hochschnellen der Zahl der hospitalisierten Patienten kamen Bedenken über einen möglichen Zusammenbruch des Gesundheitssystems auf. Die Umstände führten uns zu der Erkenntnis, dass wir die rasche Ausbreitung des Virus nur dann verhindern können, wenn wir in persönlicher und gegenseitiger Verantwortung handeln.

In der Welt vor dem Coronavirus klang gegenseitige Verantwortung wie ein weiterer belächelter Slogan, ähnlich wie „liebe deinen Nächsten wie dich selbst“ – eine Floskel, deren Umsetzung eigentlich von niemandem ernst genommen wurde. Beim Militär trainiert man eine solche enge Verbindung, um zu überleben, aber außerhalb des militärischen Rahmens wird gegenseitige Verantwortung eher als abstraktes Ideal angesehen.

Das  Coronavirus machte schnell klar, dass „gegenseitige Verantwortung“ viel mehr ist als nur ein schönes Wort: Wir können uns alle gegenseitig anstecken, und sind daher verpflichtet, füreinander verantwortlich zu sein. Ob es uns gefällt oder nicht, jeder unverantwortlich Handelnde wird andere anstecken und endlose Kettenreaktionen auslösen, die alle gefährden.

In vielen Ländern wurden COVID-19 diagnostizierte Fälle öffentlich bekannt gegeben. Die Reiserouten der Betroffenen wurden Gegenstand epidemiologischer Untersuchungen, und alle anderen wurden kontrolliert, ob sie sich zu den entsprechenden Zeiten an den entsprechenden Orten aufgehalten hatte. War dies der Fall, mussten sie sich in Selbst-Quarantäne begeben und dies den Behörden melden.

Damit übertrug das Coronavirus die persönliche und gegenseitige Verantwortung auf ganze Regionen. Die Art und Weise, wie sich das Virus verbreitete, lehrte uns, dass jedes einzelne Individuum im globalen Zeitalter einen enormen Einfluss hat.

Je mehr Zeit verging, desto strikter wurden die Einschränkungen. Als die Welt still stand und sich die Straßen leerten, tauchten die großen Fragen auf: Was wird als Nächstes geschehen? Wann wird diese Pandemie enden? Was hat diese ganze Situation verursacht? Und warum haben wir das verdient?


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